Nachruf Manfred Schmalriede
wir sind unterwegs und warten
Meine erste Begegnung mit Manfred Schmalriede war 2007 bei einer Tagung der DFA in Hamburg, als er noch deren Präsident war. Seine Diskussionsfreude und die durch ihn angestossenen Debatten über die Bilder (und nicht nur das Abgebildete) machten mir sofort große Freude und führten dazu, dass wir uns viele Jahre vor allem bei den Tagungen der DFA trafen, aber auch darüber hinaus regen Austausch pflegten.
Schon bei der erwähnten ersten Begegnung, wie auch bei jeder weiteren, beeindruckte Manfred Schmalriede mich durch seine Argumentationsfreude. Im Denken trafen wir uns im Zweifel am Wirklichkeitsbezug von Fotografie. „Bei der Betrachtung von Fotos gehen wir immer noch von einer naiven Annahme aus, die durch die Geschichte der Fotografie selbst geprägt wurde: Ein Foto bildet das, was es darstellt, authentisch ab.“ (1) schrieb er 1989 in einem Katalogbeitrag. Und er wurde nicht müde, diesen fehlleitenden Irrglauben in Texten, Vorträgen und Diskussionen infrage zu stellen.
Außerordentlich waren die Diskussionen, die er bei den Tagungen der DFA anstieß, wo es ihm besonders um „das Reden über das Reden über die Bilder“ (2) ging. Er diskutierte nicht das Abgebildete, sondern immer das Bild als Objekt mit eigenen ästhetischen Qualitäten.
Ob in Gesprächen oder in Vorträgen, er legte sein Denken dar, so dass man ihm dabei zuschauen konnte. Obwohl ich ihn selbst nie als Studentin erlebt habe, stelle ich mir vor, dass diese Präsentation eines „denken denken“ (wie es Donna Haraway nennt) ihn zu einem herausragenden Lehrer für Generationen von Student*innen machte, der seine Denkfiguren entwickelte wie Fadenspiele (auf die ebenfalls Donna Haraway hinweist), die bei jedem Abnehmen eine neue Figur ergeben. Bei diesen Fadenspielen mit Denkbildern funkelten seine Augen bis zuletzt.
Er konnte wie kein anderer in einem Spiel zwischen geplantem Vortrag und Improvisation seine Gedanken entwickeln. Besonders schön war das in seinen Diavorträgen zu verfolgen, bei denen er offensichtlich auch mitten im Vortrag mal die geplante Reihung verwarf und sie sich neu entfalten ließ. So entstanden quasi immer neue Denkbilder im wahrsten Sinne des Wortes, Bilder die und mit denen Manfred Schmalriede dachte.
Ob im Vortrag, im Aufsatz oder eben im Gespräch, als Zeichner, Fotograf oder Theoretiker, als Lehrer oder vermutlich sogar in Funktionsämtern, bei allen Tätigkeiten, in all ihrer Vielfältigkeit, war er von einer Begeisterung zur ewigen Weiterentwicklung getrieben.
"wir sind unterwegs und warten", ist der von der Familie gewählte Satz in der Todesanzeige und auf der Karte. Er kann als Leitsatz für Manfred Schmalriedes Leben und unseren Abschied von ihm verstanden werden. Das Warten ist mit dem Unterwegs sein verbunden durch die Rast des Rastlosen, die nur dem dient, ein neues Ziel zu finden, wo es wieder hingehen kann. Dann ist der Rastlose auch schon wieder unterwegs.
Mit Manfred Schmalriede verlässt uns endgültig ein Mann, der viele Rollen in fließenden Übergängen leben konnte, für manche von uns einzelne, für andere auch mehrere zugleich: als Lehrer, Kollege, Fotograf, Zeichner, Maler, Theoretiker, Kurator, aber auch als Ehemann, Vater, Großvater, Schwiegervater, Schwager und als Freund, ein großartiger Denker in Theorie undvkünstlerischer Praxis, in seltener Vielfältigkeit und Beweglichkeit, von dessen Andenken ich auchvin meiner Zukunft persönlich gerne weiter lernen werde.
Silke Helmerdig, Berlin im November 2023
- (1) Katalog zur Ausstellung „Inszenierte Wirklichkeit“, Dortmund, 1989, Hg. Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund
- (2) Bulletin III, Deutsche Fotografische Akademie