Die Nothhelfers: Solitäre in der Fotografie
Laudator Prof. Klaus Honnef über die Preisträger Gabriele & Helmut Nothhelfer
Gabriele & Helmut Nothhelfer sind Solitäre in der fotografischen Landschaft. Zwar finden sie ihre Motive auf der Straße, seit Jahrzehnten ausschließlich in Berlin. Doch sie sind keine Straßenfotografen. Zwar suchen sie gerne öffentliche Veranstaltungen auf. Doch die liefern nur den Anlass, besondere Menschen zu fotografieren. Die besonderen Menschen sind keine Stars oder Prominente mit geringem Halbzeitwert – es sind Menschen, die eigentlich keine besondere Rolle spielen und nicht besonders auffallen. Sie haben sich auf Straßen, Plätze und in Hallen begeben, weil öffentliche Veranstaltungen sie angelockt haben.
Es sind die namenlosen menschlichen Subjekte, die eine Menge bilden. Die Nothhelfers erkennen sie in der Menge und wählen sie aus. In ihren Bildern verleihen sie ihnen eine unvergleichliche Individualität. Ihre Bilder sind im Kern Bildnisse; doch Porträts, die den herkömmlichen Rahmen der Gattung erweitern und zugleich untergraben. Zeugnisse sorgfältiger und geduldiger Beobachtung, Bilder im „dokumentarischen Stil“, wie Walker Evans ihn definiert hat, und die Essenz einer ungeheuer (selbst)-kritischen Auswahl. Nie drängt sich betontes Kunstwollen auf – die fotografierten Menschen geben den Bildern die einzigartige ästhetische Intensität.
Die Nothhelfers zeigen sie weder als Repräsentanten eines Sozialtypus noch im dramatischen Hell-Dunkel vordergründiger Psychologisierung. Sie vergegenwärtigen sie vielmehr in den langen Augenblicken, wo sie ganz bei sich sind. Das numerisch schmale Werk hat fotografische Maßstäbe errichtet. Erst im Rückblick von über vierzig Jahren Arbeit stellt man zugleich fest, dass die Nothhelfers ein sehr genaues mentales Porträt der Bundesrepublik Deutschland während einer Zeit tiefgreifenden Wandels geschaffen haben. Im künstlerischen Range ist es dem epochalen Menschen-Atlas von August Sander über das Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenbürtig.
"Unsere Photographien sind nicht arrangiert und inszeniert, um eine Geschichte zu erzählen, die wir uns vorher ausgedacht hätten. Dennoch scheint uns, daß die Konstellationen, die der Zufall auf ihnen zustande brachte, nicht stumm sind. Doch die Geschichten, von denen sie zu erzählen scheinen, sind nicht so eindeutig, daß sie sich leicht in Worte fassen ließen. Am 2.Juni 1974 besuchten wir mit unserem Photoapparat das Pfingstkonzert, das in Berlin alljährlich im Zoologischen Garten stattfindet. Drei Bilder auf dem Film, der an diesem Tag belichtet wurde, machten uns das Zentrum deutlich, um das unsere Bilder in jener Zeit gravitierten, ohne daß wir uns bis dahin Rechenschaft darüber gegeben hatten: die entfremdete Freizeit. Eines dieser Bilder war die „Dame beim Pfingstkonzert“. Doch auch von uns gab es ein Bild auf diesem Film: Ein Fremder, der uns photographieren sah, hatte uns gefragt, ob wir nicht auch gern ein Erinnerungsphoto haben wollten. Wir gaben ihm unseren Apparat, und er machte ein Bild. Uns scheinen die etwas unbedarften jungen Gesichter jetzt weit entfernt, sehr klein, wie durch ein umgekehrtes Fernrohr gesehen."
Gabriele & Helmut Nothhelfer, Berlin im März 1992