Fotobuch-Experte Wolfgang Zurborn trat am 6.6.23 gegen Detlev Pusch an, um aus dem Bildmaterial "aye" von Jörg Meier einen Buch-Dummy zu erstellen.
Im Zoom-Talk stellen die Expert*innen ihre Herangehensweise vor und diskutieren ihre Ergebnisse mit Jörg und den Zuschauer*innen. Wie immer zeigen uns die Fotobuchprofis Schritt für Schritt, wie sie zu ihrem Ergebnis kommen. Und diesmal erklären sie auch, warum bestimmte Einzelbilder aussortiert wurden. "Detlevs Entwurf fordert den Betrachenden heraus, stärker durch die Kapitel und Begrifflichkeit das Narrative zu betonen. Wolfgangs Entwurf zählt auf jedes einzelne Bild in Abfolge und lässt die Interpretationen offener erscheinen", beschreibt Ingo Taubhorn die unterschiedlichen Ansätze. Wieso Detlev die Buchgestaltung als vampiristische Arbeit ansieht, und ob man einen Bildraum auseinander nehmen und über zwei Seiten verteilen kann, ohne das dem Bild innewohnende Gefühl zu verlieren? Warum Jörg eine fremde Stadt als Reise in die eigene Biografie porträtieren möchte und ob ihm das in Wolfgangs Augen gelungen ist - das erfahren Sie hier in dieser Folge.
Aufzeichnung
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Bookdummies
- Wolfgang Zurborns Entwurf: Download PDF
- Detlev Puschs Entwurf: Download PDF
Jörg Meier über sein Bildmaterial
"'aye' basierte auf einem Gefühl während einer Fahrt durch die Stadt Glasgow im Jahr 2019. Erinnerungen an meinen Heimatort dem Ruhrgebiet von vor 40 Jahren tauchten auf.
Meine eigene Vergangenheit lag vor mir, eine, die ich nie dokumentiert habe. In meiner Kindheit wehte der Wind kalt durch die Mietskasernen der 60er Jahre in einem Vorort von Dortmund. Meine schönste Erinnerung habe ich an die Obstgärten und Felder in der Umgebung. Im Winter waren die einfach verglasten Fenster mit Eiszapfen untertitelt. Sie wuchsen vom Kitt bis in die Mitte der Scheibe. Der Frost ließ sich nicht aufhalten.
Finanzielle und winterliche Kälte korrespondierten miteinander. Der Ofen im Wohnzimmer reichte nicht aus, um alle Zimmer zu wärmen, man fröstelte sich in den Schlaf. Weit zurück liegt die Schwerindustrie mit ihrem Ruß, dem glühenden Himmel und dem Gestank von Armut, roten Nasen und schwerem Alkoholismus, der die Situation für die Generation meiner Eltern erträglich machte. Man konnte die Arbeit auf den Straßen riechen, und sie sich abends mit dem Dreck aus der Nase wischen. So erscheint mir Glasgow teilweise noch heute.
'aye' erzählt von persönlichen Begegnungen mit Menschen, die in Glasgow leben. Indem ich mit ihnen Zeit verbringe und sie kennenlerne, erkenne ich meinen eigenen Background deutlicher. Es zeigen sich Parallelen zu meiner Sozialisation. Immer wieder schleiche ich durch die Sozialwohnungen der Vorstädte und stehe vor der Haustür ‚meiner‘ Kindheit. Ich treffe auf Dinge, Orte und Menschen, vor denen ich einst davonlief, weil ich Angst hatte, "so wie sie" zu werden. Heute spreche ich ihre Sprache und sehe, dass ich aus demselben Holz geschnitzt bin. Sie sind meine Sippe. Ich begegne meiner Vergangenheit und lasse die Dinge geschehen, dokumentiere diesmal aus den Augen eines ‚Glaswegian‘, der ich nie war.
'aye' ersetzt jede sprachliche Lücke und bedeutet nicht nur 'ja' oder 'was?', sondern zeigt auch Zustimmung - genau das, was ich in dieser Stadt finde. Die Menschen, die ich porträtiere, und die Geschichten, die ich höre, dienen mir als Projektionsfläche für meine eigene Geschichte."
Über die Teilnehmer
- Detlev Pusch
- In seiner Arbeit sucht Detlev Pusch die ultimative und einzigartige Form für gewichtige Bücher wie "Augen auf! 100 Jahre Leica" mit weit über 500 Seiten, aber genauso auch schmale Bändchen für junge Künstler, die er genauso liebevoll und umsichtig in die ihnen angemessene Form bringt. Als etablierter Buchgestalter für wichtige deutsche Kuratoren wie Hans-Michael Koetzle, Frank Wagner (†), Boris von Brauchitsch und Ingo Taubhorn und internationale Künstler wie Alfredo Jaar, Saul Leiter, Sarah Moon, Dries Verhoeven, Ute Mahler und Werner Mahler, mit Katalogen für Institutionen wie das Haus der Photographie, Deichtorhallen Hamburg; Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin; Leica, Wetzlar; Museum Ludwig, Köln; Kehrer Verlag Heidelberg und Edition Braus, Berlin.
- Wolfgang Zurborn
- geb.1956, studierte an der Bayerischen Staatslehranstalt für Photographie in München und an der FH Dortmund. 1985 bekam er den Otto-Steinert-Preis der DGPh und 2008 den Deutschen Fotobuchpreis für sein Buch Drift. Ausstellungen mit seinen Arbeiten werden international gezeigt. Seit 37 Jahren ist er Mitbetreiber der Galerie Lichtblick in Köln und 2010 gründete er die Lichtblick School. Weltweit leitet er Workshops. Seit 1998 ist er im Präsidium der Deutschen Fotografischen Akademie.
- Jörg Meier
- Jörg Meier *1970
- 2011 Diplom Kommunikationsdesign Fotografie Dortmund
- 2015 Gründung Selfiegrafen selfiegrafen.de
- NL, Amsterdam – Winner Pride Photo Awards, Oude Kerke, ’nod – East Of Eden‘
- 2017 Arbeit als Dozent in der kulturellen Bildung
- Projektpreis des Landes NRW Kinder- und Jugendkulturland für das Projekt ‚Unter meiner Haut‘
- 2018 Dieter Baacke Preis Kategorie „Interkulturelle und internationale Projekte“ für ‚NeoEnkel’
- 2020 British Journal of Photography – Portrait of Britain – Winner Portrait of Britain
- Dieter Baacke Preis Kategorie „Interkulturelle und internationale Projekte“ für das Menschenrechts-Projekt ‚Recht & Würde’ Preis
- 2021 Honorable Mention: Portrait in APA, Chromatic Award and Open in FAPA for ‚aye‘
- 2022 NL, Amsterdam ‚LGBT Farmer‘, Amsterdam, PRIDE PHOTO AWARD