Nadja Ellinger
"Path of Pins"
Sonntag, 4. Dezember, 10.00 - 11.00 Uhr
Path of Pins ist eine bildnerische Nacherzählung von Rotkäppchen, die sich um das Erwachsenwerden und die sich ständig wandelnde Darstellung von Frauenfiguren in der Folklore dreht. In einer der frühesten mündlich überlieferten Versionen des Märchens, die Charles Perrault später zu seinem "Petit Chaperon Rouge" inspirierte, fragt der Wolf die namenlose Heldin: "Welchen Weg willst du einschlagen?", woraufhin sie sich für den Weg der Stecknadeln, den unvorsichtigen und flüchtigen Weg, entscheidet - im Gegensatz zum Weg der Nähnadeln, dem irreversiblen Weg des Wolfs. Diese Entscheidung der Nadeln spiegelt zwei interessante Aspekte wider: Auf einer persönlichen Ebene, indem sie sich weigert, dem vorgeschriebenen Weg zu folgen, entscheidet sich die Heldin, ein Kind zu bleiben und bevorzugt den Zustand unzähliger Möglichkeiten. Indem sie erkundet, was dahinter liegt, führt sie uns tief in den Wald hinein. Auf einer abstrakten Ebene bezieht sich diese Metapher der Stecknadeln und Nähnadeln darauf, wie Märchen bearbeitet werden: Wie ein Schmetterlingssammler tötet Perrault die lebendige, sich ständig weiterentwickelnde mündliche Erzählung, um sie dem Leser in einer Pose zu präsentieren, die er ihr künstlich aufgezwungen hat: Er zwingt die Heldin in das Korsett seiner Ideologien. Im Vergleich zu den frühen Varianten der Erzählung, in denen die Heldin den Wolf überlistet, reduziert Perrault sie auf ein naives Mädchen, das an ihrer eigenen Vergewaltigung schuld ist. Das Märchen stellt die Autorenschaft in Frage: Jede Form der Nacherzählung oder Neuinszenierung bettet frühere Versionen des Märchens ein, wiederholt es, verändert es, so dass es nie original sein wird - keine Urheberschaft kann über es beansprucht werden. Das Märchen gebärt sich selbst. Deshalb arbeite ich mit meinen Freunden, meiner Familie, meinem eigenen Körper. Es ist ein traumähnlicher Zustand, in dem die Logik nicht mehr gilt und die Zeit anders funktioniert. Das Unterbewusstsein zieht Verbindungen, entwickelt eine Erzählung, derer ich mir nicht bewusst war, und findet Analogien zwischen diesem Universum und der Realität, indem es diese beiden Welten zusammennäht. Die Erzählung entfaltet sich, langsam, wächst mit jeder Iteration. Wie ein lebendiges Wesen.
Nadja Ellinger ist eine bildende Künstlerin, die sich mit der weiblichen Figur in oralen Überlieferungen und Folklore beschäftigt. Sie wurde 1993 in einem kleinen mittelalterlichen Dorf in der Mitte Deutschlands geboren. Sie verbrachte die meiste Zeit im Wald und in Büchern und verliebte sich in Märchen, Folklore und das Geschichtenerzählen. Nach ihrem Bachelor-Abschluss in Fotografie an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in München studierte sie von 2018 bis 2020 für ihren MA in Fotografie am Royal College of Art in London. Nadjas Arbeiten wurden unter anderem in Großbritannien, den USA, Italien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Dänemark, Deutschland und Frankreich ausgestellt und veröffentlicht. Zuletzt stellte sie auf dem Copenhagen Photofestival 2021, OpenWalls Arles 2021 und dem Ashurst Art Prize 2021 in London aus. Sie hat unter anderem für Kunden wie Vogue USA und das British Design Museum gearbeitet.
Essay von DFA-Mitglied Christoph Linzbach zum Vortrag: Link.